Kim Bui nach der Karriere – Bereit für neue Herausforderungen

Am 14. August 2022 fiel der letzte Vorhang. Eine nahezu perfekte Übung im Stufenbarren-Finale der Turn-Europameisterschaft in München, eine letzte Landung – dann wurde Kim Bui, die am Tag zuvor mit dem deutschen Team die Bronzemedaille gewonnen hatte, von ihren Emotionen überwältigt. Die Tränen flossen in Strömen. Nicht nur bei der Stuttgarterin, auch bei den jubelnden Fans in der Münchener Olympiahalle und den Zuschauern zuhause. Nach 17 Jahren in der Nationalmannschaft, 13 Deutschen Meistertiteln und drei Olympia-Teilnahmen hat die 33-Jährige ihre Karriere beendet. Anfang September packte sie ihren Rucksack, setzte sich in den Flieger und erkundete sechs Wochen lang allein und auf eigene Faust Indonesien und Singapur. Nach ihrer Rückkehr haben wir uns mit einer gut erholten und tief entspannten Kim getroffen, um mit ihr über das Leben nach der Karriere zu sprechen – an ihrem alten Arbeitsplatz im Kunst-Turn-Forum Stuttgart, den sie bei unserem Treffen zum ersten Mal nach drei Monaten wieder betrat.

Autor:Lara Auchter

8. Dezember 2022

Kim Bui im Gespräch mit der SPORT.S-Redaktion.

Fotos: Iris Drobny

Willkommen zurück im Ländle. Wie war deine Reise?
Kim Bui: Ich hatte mir einfach den Rucksack aufgezogen und bin los, um Indonesien und Singapur zu erkunden. Mein Hin- und Rückflug waren das einzige Geplante an dieser Reise. Ich war allein unterwegs und hab mich selbst aus meiner Komfortzone rauskatapultiert. Es war echt verrückt, alleine in einem fremden Land, ohne einen großen Plan zu haben, was du auf dieser Reise machen wirst.

Aber ich habe so viel erlebt, tolle Erfahrungen gemacht und durch zufällige Begegnungen mit den Menschen dort so viel Wertvolles mitgenommen. Es war auf jeden Fall ein Abenteuer. Wie sieht denn deine persönliche Komfortzone aus?
Kim Bui: Die Komfortzone ist einfach das gewohnte Umfeld, die Leute um einen herum, eine gewisse Routine, die man jeden Tag hatte. Man erlebt wenig Neues, es gibt kaum Überraschungen. Und dann da rauszukommen in eine neue Welt, eine neue Kultur, war echt der Wahnsinn. Natürlich ist es auf der einen Seite auch beängstigend sein Zuhause zu verlassen, aber rauszugehen in die Welt und sich selbst dabei zu entdecken, war unglaublich spannend.

Wie hast du dich entdeckt? Was unterscheidet die „neue Kim“ von der alten?
Kim Bui: Mir sind auf der Reise Eigenschaften zugesprochen worden, die ich zuvor nicht an mir kannte. Gerade durch die vielen Begegnungen und Bekanntschaften, die man gemacht hat. Viele haben gesagt, ich sei geduldig und strahle viel Ruhe und Gelassenheit aus. Ich denke ich habe dort einfach entschleunigt und das auch in meinem Handeln und Wirken gegenüber anderen Personen gezeigt. Diese Seite hatte ich vorher nicht an mir gekannt.

Du hast jetzt bestimmt auch wesentlich mehr Zeit als vorher…
Kim Bui: Ja genau, mein Leben war ziemlich vollgepackt, da unsere Sportart sehr zeitintensiv ist. Jetzt habe ich plötzlich viel mehr Zeit, das habe ich auch schon auf der Reise gemerkt. Dass ich diese Zeit nun für mich nutzen kann, für meine Interessen außerhalb des Sports, um mich mit Freunden zu treffen oder auch solche Interviews wie mit euch zu führen, ist total schön.

Man hört oft von Leistungssportlern, dass sie nach ihrem Karriereende in ein mentales Loch fallen. Wie war das bei dir?
Kim Bui: Auch hier war der Trip echt gut, um ein bisschen Abstand zu bekommen. Das hat glaube ich schon geholfen, da ich in Asien ja auch bereits wochenlang ohne den Sport war und sich mein Leben um etwas komplett anderes gedreht hat. Ich würde dieses „Loch“ nicht so negativ sehen. Für mich ist das eher eine Chance herauszufinden, was ich machen möchte und das dann auch anzugehen.

Klingt so, als seist du absolut mit dir selbst im Reinen…
Kim Bui: Es fühlt sich einfach toll an Neues zu entdecken, auch an einem selbst, und zu schauen, wo die Reise hingeht. Ich habe natürlich auch sehr viel Vorarbeit geleistet und mich intensiv mit dem Ende meiner Karriere beschäftigt. Mein Karriereende bei den Europameisterschaften in München war wunderschön. Ich hatte total viel Glück, dass es so gekommen ist, auch mit der ganzen Anerkennung und Wertschätzung, die mir da entgegengebracht wurde. Da wurde mir auch zum ersten Mal bewusst, was für eine Wirkung ich tatsächlich auf die Turnwelt hatte. Dann natürlich noch mit dieser historischen Bronzemedaille im Team aufzuhören, das war schon ein Traum.

War das dann so ein Karrierehighlight im Sinne von „das Beste kommt zum Schluss“?
Kim Bui: Absolut. Ich habe viele Highlights in meiner Karriere gehabt, aber dieses Ende war schon episch. Auch wenn ich mir jetzt noch im Nahhinein die Bilder anschaue, ist das wahnsinnig emotional für mich. Die Bewunderung und Begeisterung, die mir von wildfremden Menschen entgegengebracht wurde, das hat mir schon innerlich eine Größe gegeben. Das war auch auf meiner Reise so, wenn Menschen, die mich nicht kannten, mir eine gewisse Anerkennung geschenkt haben.

Bei deinem Abschied in München ist kein Auge trocken geblieben und auch wir hatten vor dem Fenseher „Pipi“ in den Augen…
Kim Bui: Das war bei mir ja genauso (lacht). Das sind dann einfach Emotionen, ob Trauer oder Freude… Dieser Moment, auch mit dem ganzen Publikum und der großen Bühne, das war einfach emotional für mich und ich kann es auch jetzt noch kaum in Worte fassen, was all das für mich bedeutet.

Du bist heute zum ersten Mal zurück im Kunst-Turn-Forum. Juckt es da wieder ein bisschen in den Fingern?
Kim Bui: Nein, gerade juckts mich nicht (lacht). Ich freue mich wieder zurück zu sein, habe aber nicht das Bedürfnis, an die Geräte zu gehen. Jetzt darf ich turnen, wenn ich möchte, das ist der große Unterschied. Vorher musste ich – wobei „müssen“ jetzt negativer klingt als es tatsächlich war. Mir hat das Turnen ja immer Spaß gemacht…

Du hast bestimmt die Turn-Weltmeisterschaften in Liverpool verfolgt. Wie war das für dich in der Zuschauerrolle?
Kim Bui: Ich wurde immer wieder gefragt, ob ich Wehmut verspüre und ob ich gerne mitgeturnt hätte. Dazu muss ich ganz ehrlich sagen, das Gefühl gab es überhaupt nicht. Ich bin glücklich über mein Karriereende und supporte gerne von den Rängen aus. Grundsätzlich bin ich so ein Typ Mensch, der seine Entscheidungen immer wohlüberlegt trifft. Wenn ich mich für mein Karriereende entscheide, lasse ich mir da nicht noch ein Hintertürchen offen. Ich bin einfach nicht mehr bereit gewesen, all diese Zeit und Kraft in den Sport zu stecken, und das ist auch in Ordnung so.

Wie lange hast du für die Entscheidung, deine Karriere zu beenden, gebraucht?
Kim Bui: Sehr lange. Das ist natürlich keine Entscheidung, die man mal so trifft, das ist schon ein längerer Prozess gewesen. Nach den Olympischen Spielen 2016 hatte ich mich schon mit dem Gedanken beschäftigt, natürlich nicht konkret oder gewollt, aber man hat sich gefragt, was danach kommt. Mir war immer wichtig, dass ich selbst aufhören kann – und nicht bedingt durch äußere Umstände oder weil der Körper irgendwann nicht mehr mitmacht. Mir war auch klar, dass ich die WM 2019 in Stuttgart unbedingt mitnehmen wollte. Und als sich die Olympischen Spiele von 2020 auf 2021 verschoben haben, dachte ich, dieses eine Jahr kann ich auch noch weitermachen. Nach den Spielen war ich dann immer noch nicht ganz bereit dafür. Es ist schwer, den richtigen Zeitpunkt nicht zu verpassen, und ich habe mich auch gut darauf vorbereitet. Ich habe mir mentale Unterstützung geholt und alles aufgearbeitet, auch um danach nicht in dieses „Loch“ zu fallen. Deshalb ist es ein sehr langer Prozess gewesen, weil der Gedanke immer mal wieder aufkam.

Die öffentliche Bekanntgabe war dann sicherlich auch nochmal eine Hürde…
Kim Bui: Mit der EM in München, im eigenen Land, kam die perfekte Gelegenheit aufzuhören. Ich habe mir ausführliche Gedanken gemacht, wie das alles ablaufen soll. Verkünde ich es erst nach der EM und turne dann still und heimlich meinen letzten Wettkampf, ohne dass es jemand weiß, oder verkünde ich es im Vorfeld? Bei Letzterem hast du dann einen gewissen Druck, denn jeder schaut auf dich und du willst ja nicht mit einer schlechten Übung abtreten. Aber ich dachte mir dann, performen musst du sowieso, es sind schließlich Europameisterschaften. Also warum nicht die ganze Stimmung mitnehmen und die Öffentlichkeit an meiner letzten Übung teilhaben lassen? Das hat ja dann auch recht gut geklappt.

Den Entschluss zu fassen, ist das eine. Den einen Mausklick zu machen, der die Entscheidung dann offiziell online verkündet, das andere. Das hat bestimmt nochmal Überwindung gekostet…
Kim Bui: Die offizielle Verkündung an die Presse und auf den Sozialen Medien fand am Medientag der EM statt. Einen Abend zuvor hatte ich es schon dem Nationalteam gesagt. Wenige Stunden vor der Bekanntgabe habe ich zudem eine Mail an verschiedene Institutionen und einen erweiterten Kreis an Personen geschickt, die mir wichtig sind und mich während meiner Karriere besonders begleitet und unterstützt haben. Als ich diese Mail dann abgeschickt habe war das tatsächlich nochmal so eine kleine Hürde, weil man in dem Moment selbst realisiert, dass es jetzt wirklich vorbei ist. Das hat mich schon ein bisschen Überwindung gekostet.

Angenehme Gesprächsrunde an Kim Buis altem Arbeitsplatz im Kunst-Turn-Forum.

Wie geht es jetzt für dich weiter? Du hast ja parallel zu deiner Turnkarriere Technische Biologie studiert und deinen Master im Bereich Krebs- und Immuntherapie geschrieben.
Kim Bui: Aktuell bin ich noch in der Findungsphase. Ich mache gerade eine Coaching-Ausbildung und nutze einfach die Zeit, um dem Sport etwas zurückzugeben. Ich möchte immer noch Teil dieser Sportwelt sein und werde das hoffentlich auch in der Zukunft bleiben. Ich gehe in Vereine und gebe Workshops, um mein Know-how und all das, was ich in meiner Turnkarriere gelernt habe, weiterzugeben. Das macht mir Spaß. Was mein Studium angeht, kann ich noch nicht sagen, ob ich in dieser Branche arbeiten werde. Jetzt konzentriere ich mich dann erstmal auf die Vermarktung meines Buches.

Jetzt machst du uns neugierig. Was steckt dahinter und wie bist du auf die Idee gekommen, ein Buch zu schreiben?
Kim Bui: Der Autor kam bei den Olympischen Spielen in Tokio auf mich zu. Wir haben uns unterhalten und er fand, dass ich eine interessante Persönlichkeit bin und schon so viel erlebt habe, dass ich bestimmt massig tolle Geschichten erzählen kann. Im Buch schreibe ich unter anderem über das Sportsystem, positive und negative Sachen, erkläre viele Dinge und gebe einfach mal einen Blick hinter die Kulissen. Im Fernsehen sieht man nur die Einzelsportlerin und das Turnen, durch das Buch möchte ich aber auch mal alles dahinter präsentieren und zeigen, wie viel wir in den Sport investieren. Auch wie es mir mit verschieden Dingen ergangen ist und ich die Höhen und Tiefen meiner Karriere überstanden habe. Das Buch selbst wird im März 2023 erscheinen.

Wenn du vom Sportsystem sprichst – im Sommer gab es ja im Rahmen der Leichtathletik-WM Diskussionen darüber, dass von deutschen „Halbprofis“ erwartet wird, dass sie mit den Vollprofis aus anderen Ländern um die Goldmedaillen kämpfen. Im Turnen ist das vermutlich nicht viel anders als in der Leichtathletik…
Kim Bui: Stimmt. Wir investieren so viel Zeit in diesen Sport und bekommen kaum etwas zurück. Dass der Gewinner des Dschungelcamps in Deutschland mehr Geld bekommt als ein Goldmedaillengewinner bei den Olympischen Spielen sagt eigentlich schon alles. Natürlich können wir so nicht mit den Vollprofis aus anderen Ländern mithalten, die für den Sport bezahlt werden und nicht nebenher noch arbeiten oder studieren müssen.

Wie hast du es geschafft, deine Karriere über die ganzen Jahre zu finanzieren?
Kim Bui: Dadurch, dass ich nie bei der Bundeswehr oder einer anderen staatlichen Institution war, hatte ich auch nie ein festes Gehalt. Ich habe lange bei meinen Eltern gewohnt und konnte dadurch einiges ansparen. Zurücklehnen und nichts mehr machen kann ich aber trotzdem nicht. Deshalb muss ich jetzt schon irgendwie ans Geldverdienen denken.

Du hast neben der Profikarriere studiert. Wie hast du das alles unter einen Hut bekommen?
Kim Bui: Ich habe dementsprechend lange für mein Studium gebraucht, und zwar 13 Jahre. Jedoch war ich auch viel unterwegs und habe andere Dinge erlebt. Ich glaube, es gehört sehr viel Disziplin, Ehrgeiz und Durchhaltevermögen dazu, die Karriere und das Studium parallel hinzubekommen. Ich habe Glück, das ich einen Abschluss habe, weil das auch in gewisser Weise von der Gesellschaft erwartet wird – nicht, dass es später heißt die hat ja nur geturnt. Ich habe mir nebenbei etwas aufgebaut und bewiesen, dass ich an einer Sache dranbleiben und auch erfolgreich sein kann. Die Skills, die ich im Sport gelernt habe, konnte ich also für mein Studium anwenden.

Disziplin, Ehrgeiz, Durchhaltevermögen – das alles sind Skills, um die sich die Wirtschaft doch eigentlich reißen müsste. Und trotzdem stehen viele Leistungssportler am Ende ihrer Karriere ohne Job da.
Kim Bui: Man steht dort in Konkurrenz mit jüngeren Bewerbern mit eventuell dem gleichen Abschluss, und da wählen die Unternehmen heutzutage einfach die Jüngeren. Viele Unternehmen sind auch einfach nicht darauf sensibilisiert, dass Sportler wahnsinnig viele Eigenschaften aus dem Sport mitbringen, von denen die Wirtschaft profitieren kann. Ich fände es auch so wichtig, wenn es Unterstützung und Hilfe für Leistungssportler nach der Karriere geben würde, einfach weil viele nicht wissen, was sie eigentlich machen wollen. Dort anzusetzen und auch eventuell das Sportnetzwerk zu nutzen würde schon einen großen Unterschied machen.

Wenn die Autorin sich als Fan outet… SPORT.S-Redakteurin Lara Auchter mit Kim Bui.