Melanie Böhm: Neustart in Texas statt Karriereende

Die Leichtathletik verlangt sehr viel – und gibt oft nur wenig zurück. Der Druck, konstant Spitzenleistungen abrufen zu müssen, kombiniert mit oft nur unzureichender Unterstützung, bringt viele Athleten an ihre Grenzen. Melanie Böhm, Hürdenläuferin aus Hessigheim und dreifache Deutsche Meisterin mit der 400-Meter-Staffel des VfL Sindelfingen, kann davon ein Lied singen. Nach einer sportlich enttäuschenden Saison 2024 verlor sie ihren Platz im Perspektivkader des Deutschen Leichtathletik-Verbands und damit jegliche finanzielle Unterstützung. Ein frühzeitiges Karriereende kam für die 24-Jährige nicht in Frage. Deshalb geht sie nun auf eigene Kosten „All-in“. Sie hat ihren Trainingsschwerpunkt in die USA verlagert, um für ihr Ziel Olympische Spiele 2028 ihren eigenen Weg zu gehen. Für die Leserinnen und Leser von SPORT.S erzählt sie ihre Geschichte.

Autor:Lara Auchter

11. Dezember 2024

Eine Saison voller Rückschläge

Es begann vielversprechend: Melanie Böhm hatte sich intensiv vorbereitet, neue Bestzeiten im Training erzielt und war voller Hoffnung in die Saison 2024 gestartet. Doch bereits der erste Wettkampf über 400m Hürden wurde zum Desaster. „Es ging gar nichts mehr. Ich bin nicht mal an die erste Hürde gekommen,“ erinnert sie sich. Der Druck, sich innerhalb weniger Wochen für die Europameisterschaften zu qualifizieren, lastete schwer auf der 24-Jährigen. „Ich habe mir selbst enormen Stress gemacht, und das Umfeld hat es nicht leichter gemacht. Es war einfach zu viel.“

Die Gründe für den Einbruch waren vielfältig: Ein ungünstiges Umfeld, schlechtes Wetter, mentale Belastungen und die ständige Erwartung, auf Abruf Spitzenleistungen bringen zu müssen. „Ich konnte mich gar nicht mehr erholen. Mein Körper war ständig im Stressmodus, und irgendwann ging einfach nichts mehr.“

Das sportliche Tief zog sich wie ein roter Faden durch die gesamte Saison. Die für den VfL Sindelfingen startende Hessigheimerin fand ihre Form nicht wieder und musste schmerzlich feststellen, dass ihre Leistungen nicht ausreichten, um den Anforderungen des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) gerecht zu werden. Sie verlor ihren Platz im Kader. „Ich habe erst durch den Blick auf die Kaderliste erfahren, dass ich nicht mehr dabei bin. Es gab keine Kommunikation, keinen Versuch, mich aufzufangen oder zu verstehen, was mit mir los war“, erzählt sie enttäuscht.

2025 sollen der Spaß und die Form für Melanie Böhm wieder zurückkommen.

Foto: Stefan Mayer

Plötzlich ohne Unterstützung

Der Verlust des Kaderstatus bedeutete für Melanie Böhm nicht nur finanzielle Einbußen, sondern auch den Wegfall wichtiger Unterstützungsangebote: Zugang zu Physiotherapeuten, Mentaltrainern oder Ernährungsberatern, Trainingslager mit dem Team – alles weg. All die Unterstützung, die den Unterschied zwischen Amateur- und Spitzensport ausmacht, war plötzlich verschwunden.

„Ohne Kaderstatus stehst du allein da. Es gibt keinen Raum für Fehler – wenn du eine schlechte Saison hast, bist du raus“, erklärt die dreifache deutsche Staffel-Meisterin über 4x400m. „Leider zählt nicht der Mensch hinter der Leistung, sondern nur die Zahlen auf dem Papier. Aber gleichzeitig wird erwartet, dass man auch ohne Unterstützung Top-Leistungen bringt, denn nur dann kann man es nach einem Jahr wieder in den Kader schaffen.“

Dieses Gefühl, „fallen gelassen zu werden“, ist laut Melanie Böhm kein Einzelfall. Sie kennt viele Athleten, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. „Es gibt so viele Talente, die aufhören, weil sie vom Verband nicht mehr unterstützt werden. Dabei brauchen wir gerade in schwierigen Phasen jemanden, der uns hilft, wieder auf die Beine zu kommen.“

Melanie Böhm im Sindelfinger Glaspalast.

Foto: Ralf Schick

Zwischen Karriereende und Neustart

Am Ende der Saison 2024 stand die Hürdenläuferin vor einer Entscheidung: Aufhören oder weitermachen? „Ich wollte eigentlich aufhören. Ich hatte keine Freude mehr am Sport, jeder Wettkampf war eine Qual. Niemand hat mich wirklich aufgefangen, auch wenn ich mir das gewünscht hätte“, sagt sie offen. Doch den Traum von Olympia wollte sie nicht so einfach aufgeben: „Ich war es mir selbst schuldig, es noch einmal zu versuchen. Ich konnte mich nicht damit abfinden, dass die harte Arbeit der letzten Jahre für nichts war und es jetzt einfach so vorbei sein soll.“

Ein Gespräch mit der Landestrainerin Sprint am Olympiastützpunkt Stuttgart brachte schließlich Klarheit. Gemeinsam entwickelte man einen Plan, der Melanie Böhm neue Hoffnung gab: ein Neustart unter besseren Bedingungen. „Wir haben gemeinsam überlegt, was mir wichtig ist und welches Umfeld ich brauche. Dabei wurde mir klar, dass ich in Deutschland nicht mehr die Voraussetzungen vorfinde, die ich brauche, um meine besten Leistungen zeigen zu können.“ Die Lösung: Ein Neustart in den USA.

Neue Perspektiven in Texas

In Houston, Texas trainiert die Hessigheimerin nun unter Spitzentrainer Marlon Odom, einem Deutsch-Amerikaner, den sie seit Jahren kennt. „Menschlich muss der Trainer zu mir passen – das war mir am wichtigsten. Und ich wollte ein Umfeld, das positiv ist, mich unterstützt und mir die Freude am Sport zurückgibt.“

In seiner gemischten Trainingsgruppe, bestehend aus Highschool-Athleten, College-Läufern und Profis, hat Melanie Böhm genau das gefunden. „Ich lerne hier Dinge, die mir in Deutschland niemand beigebracht hat. Technische Grundlagen – wie man richtig sprintet, wie man effizient über Hürden geht. Es ist unglaublich, wie viel Potenzial ich noch ausschöpfen kann,“ sagt sie. Bereits nach wenigen Wochen zeigt ihr Training erste Erfolge: Ihre Zeiten haben sich verbessert, sie hat neues Vertrauen in ihren Körper und ihre Fähigkeiten – und vor allem ist der Spaß zurück.

Doch der Neustart ist teuer. Die Wirtschaftsinformatik-Studentin muss ihren Aufenthalt selbst finanzieren und wird dabei von ihrer Familie und ihrem Verein unterstützt. „Es ist finanziell extrem belastend, aber ich will diese Chance nutzen. Ich bin es mir selbst schuldig, meinen Traum nicht einfach aufzugeben.“

Ein strukturelles Problem

Melanie Böhms Geschichte ist leider kein Einzelfall und ein Beispiel für ein weitreichendes Problem im deutschen Spitzensport: Athleten, die nicht sofort liefern, werden schnell abgeschrieben. „Die Verbände erwarten Medaillen, bieten aber kaum Unterstützung, wenn es mal nicht läuft,“ kritisiert sie. Der Druck, konstant Höchstleistungen zu bringen, in Kombination mit der fehlenden Toleranz für Formtiefs, führt dazu, dass viele Talente frühzeitig ihre Karriere beenden – nicht wegen mangelnder Fähigkeiten, sondern wegen fehlender Unterstützung.

„Es ist traurig, wie viele Athleten wir an dieses System verlieren“, sagt Böhm. Sie kennt viele Sportler, die aufgehört haben, weil auch sie durchs Raster gefallen sind. „Man wird in guten Zeiten gefördert, aber wenn es mal nicht läuft, bist du auf dich allein gestellt“, mahnt die Hürden-Spezialistin und appelliert an die Verbände: „Man muss uns die Chance geben, uns zu entwickeln. Nicht jede Saison wird perfekt sein, aber genau dann brauchen wir Rückhalt.“

Ein Umdenken im Umgang mit Athleten, insbesondere in Krisenzeiten, wäre wünschenswert: „Es braucht mehr Gespräche, mehr Fingerspitzengefühl und individuelle Lösungen. Jeder von uns ist ein Mensch und keine Maschine.“

Olympia 2028 als Ziel

Trotz der Rückschläge hält die junge Athletin an ihrem großen Ziel fest: Olympia 2028 in Los Angeles. „Ich weiß, dass es ein langer Weg ist, aber ich glaube daran. Mein Trainer ist überzeugt, dass ich es schaffen kann – und das gibt mir Kraft.“
Mit ihrem Neustart in den USA hat Melanie Böhm eine wichtige Entscheidung für sich getroffen. Sie hofft, dass ihre Geschichte andere Athleten inspiriert – und den Verband zum Nachdenken bringt. „Wir investieren alles in diesen Sport, oft ohne etwas zurückzubekommen. Ich hoffe, dass sich in Zukunft etwas ändert, damit die nächste Generation von Athleten nicht dieselben Kämpfe austragen muss.“