Anja Wicker: Sensationelle Saison mit Langlauf WM-Titel

Autor:Lara Auchter

30. Juni 2025

Anja Wicker vom MTV Stuttgart gehört seit 2011 im nordischen Para-Skisport zur Weltspitze. Jahr für Jahr sammelt die Stammheimerin im Winter Medaillen und Titel fast am Fließband. Doch in der Saison 2024/25 hat die 33-Jährige nochmal eine ordentliche Schippe draufgepackt. Statt wie in den letzten Jahren zweite und dritte Plätze einzuheimsen, wurde sie erstmals auch im Langlauf Weltmeisterin und gewann den Gesamtweltcup im Biathlon. Nach der Saison begab sie sich auf einen vierwöchigen USA-Urlaub, nach dem wir uns dann mit einer relaxten und gut erholten Anja getroffen haben, um den Winter gemeinsam Revue passieren zu lassen.

Anja, du kommst gerade aus einer beeindruckenden Saison zurück: sieben WM-Rennen, sieben Medaillen, Langlauf-Weltmeisterin, Gesamtweltcup-Sieg im Biathlon – was ist da passiert?

Anja Wicker: Es war tatsächlich ein bisschen verrückt. Ich hätte vor der Saison selbst nicht damit gerechnet, dass alles so gut läuft. Besonders, weil ich über Weihnachten noch krank war – da dachte ich schon: Das war’s jetzt, das wirft mich komplett raus. Aber ich konnte gut regenerieren, bin fokussiert ins neue Jahr gestartet, und dann ist vieles aufgegangen, was ich mir in den Jahren zuvor hart erarbeitet hatte. Vor allem der WM-Titel im Langlauf – mein erster überhaupt – war ein ganz besonderer Moment. Denn lange Zeit habe ich eher über das Schießen im Biathlon meine Medaillen gewonnen und war noch nie die beste Läuferin. Dass ich da jetzt auch ganz vorne mithalten kann, ist das Ergebnis jahrelanger, bewusster Arbeit.

Du bist seit 2011 auf Weltcup-Niveau unterwegs. Hat sich dein Training über die Jahre verändert?

Anja Wicker: Absolut. Ich habe irgendwann gemerkt, dass mir individuelles Training gut tut. Ich mache vieles allein, nach meinem Rhythmus. Natürlich trainiere ich auch gerne mal mit der Mannschaft, aber wenn es für mich nicht passt, gehe ich meinen eigenen Weg. Das durchzusetzen – auch kommunikativ – war ein Lernprozess. Ich weiß heute viel genauer, was mein Körper braucht. Es geht weniger um Trainingsumfang und mehr um Qualität, Struktur und Regeneration. Dieses Wissen zahlt sich aus.

Wie sieht so eine typische Trainingswoche im Sommer bei dir aus?

Anja Wicker: Der Sommer ist tatsächlich sehr trainingsintensiv. Ich trainiere sechs Tage die Woche. Zweimal Krafttraining am Olympiastützpunkt, vier Mal lange Einheiten auf dem Skiroller – meist auf gut asphaltierten Feldwegen bei mir zuhause in Stammheim. Mein zweites Wohnzimmer, könnte man sagen. Nachmittags kommt oft noch eine Einheit auf dem Rad oder am Gerät dazu. Da ich beim Handbiken draußen Unterstützung brauche, mache ich vieles lieber indoor. So kann ich wenigstens eine Einheit am Tag komplett selbstständig gestalten. Das ist manchmal auch ganz schön.

Du hast eine außergewöhnlich lange Karriere auf konstant hohem Niveau – und jetzt noch mal einen echten Höhenflug. Fühlt sich das an wie ein „zweiter Frühling“?

Anja Wicker: Ja, ein bisschen schon. Ich war nie richtig weg, aber in den letzten Jahren hatte ich oft zweite oder dritte Plätze. Immer vorn dabei, aber eben nicht ganz oben. Und jetzt war plötzlich dieser Flow da. Ich bin gesund durch die Saison gekommen, war mental klar, hatte eine gute Laufform und das Team drumherum hat einfach gestimmt. Das gibt natürlich einen zusätzlichen Push. Ich bin motivierter denn je.

Was motiviert dich nach all den Jahren noch, dich durch Sommertraining, Reisestrapazen und Wettkampfwochen zu kämpfen?

Anja Wicker: Ich liebe es einfach. Den Sport, das Gefühl, körperlich an meine Grenzen zu gehen, und auch das Reisen. Klar ist das anstrengend, aber es ist auch ein riesiges Privileg. Ich darf für meinen Sport die Welt sehen – von Japan und Südkorea über Kanada bis Norwegen. Und solange es sich nicht wie Routine anfühlt, sondern wie eine Herausforderung, weiß ich: Ich bin noch nicht fertig.

Siegerehrung beim Biathlon Weltcupfinale im Sprint. Folgende Fotos: privat

Wie erlebst du das Reisen aus Perspektive einer Rollstuhlfahrerin – gerade international?

Anja Wicker: Ich war zuletzt ein paar Wochen im Urlaub in den USA, und das Land ist für mich als Rollifahrerin ein Traum. Alles ist barrierefrei. Du musst dir keine Gedanken machen – weder in Nationalparks noch in Städten. Selbst spontan ein Hotel zu finden, ist kein Problem. Das ist in Europa leider ganz anders. Hier braucht man oft ewig, bis man etwas Barrierefreies findet. Und dabei würde ich so gern mal einen Roadtrip durch Europa machen. Aber der Planungsaufwand ist riesig – das nimmt viel von der Spontanität. In den USA ist es einfach entspannt, deswegen war ich dort schon einige Male im Urlaub.

Wie gehst du generell mit Hilfe von außen um – etwa wenn dich jemand spontan unterstützen möchte?

Anja Wicker: Das ist eine Frage, die ich öfter höre – gerade von Menschen, die unsicher sind, ob sie helfen dürfen oder sollen. Mein Grundsatz ist: Fragen geht immer. Schlimm ist es nur, wenn jemand ungefragt zupackt. Aber wenn jemand höflich fragt, kann ich ja sagen: „Danke, geht schon.“ Oder eben: „Ja, gerne.“ Es gibt kein Patentrezept – jeder im Rollstuhl tickt anders. Aber respektvolles Fragen ist ein guter Anfang.

Anja Wicker beim Biathlon Weltcupfinale in Torsby, Schweden.

Im Para-Wintersport spricht man bei der Zeitmessung oft von Prozenten und Zeitgutschriften. Wie funktioniert das genau?

Anja Wicker: Wir haben im Parasport verschiedene Startklassen – bei uns sind das sitzend, stehend und sehbehindert. Innerhalb dieser Gruppen gibt es nochmal prozentuale Einstufungen. Ich zum Beispiel bin bei 86 Prozent, das heißt: Ich bekomme 14 Prozent Zeit gutgeschrieben. Beim Rennen läuft meine Uhr also langsamer als bei anderen. Im Liveticker kann man das gut sehen – meine Zeit tickt anders. Das klingt erstmal ungewohnt, aber das ist unser Weg, Chancengleichheit herzustellen.

Und wie sieht die Konkurrenz derzeit aus – wer fordert dich am meisten heraus?

Anja Wicker: Gerade im Biathlon ist es richtig spannend. Es gibt zwei Amerikanerinnen, die extrem stark sind – die eine läuft sehr gut, die andere schießt fast fehlerfrei. Das ist beeindruckend. Ich treffe vielleicht 90 Prozent der Scheiben, sie 98 oder 99. Da muss man schon sehr konstant sein, um mitzuhalten. Aber genau das ist es, was mich reizt: Die Herausforderung.

Du bist seit 2021 verbeamtet im Zoll-Skiteam – wie lässt sich das mit dem Spitzensport vereinbaren?

Anja Wicker: Perfekt, ehrlich gesagt. Mein Beruf ist aktuell mein Sport. Ich bin Zollbeamtin und für Training und Wettkämpfe freigestellt. Das ist ein großer Luxus, den es in Deutschland leider nur für wenige gibt – im Parasport sind es primär Bundeswehr und Zoll, wobei der Zoll sich auf den Wintersport konzentriert. Ich bin froh, dass ich diesen Weg gehen darf und damit auch eine berufliche Perspektive nach meiner sportlichen Karriere habe.

Blicken wir nach vorn: 2026 stehen die nächsten Paralympics in Italien an. Was bedeutet dir dieses Ziel?

Anja Wicker: Unheimlich viel. Es ist das erste Mal, dass meine Familie und Freunde die Chance haben, mich bei Winterspielen live zu erleben. Sotchi war zu weit, Korea auch. Und Peking war wegen Corona komplett abgeschottet. Jetzt ist Mailand-Cortina realistisch – sogar mit dem Auto erreichbar. Das ist eine schöne Motivation. Und ja, eine Langlauf-Medaille bei den Paralympics – das wäre schon nochmal ein großer Traum.

Du hast 2014 Gold geholt, warst mehrfach bei den Spielen. Was macht die Paralympics für dich trotzdem so besonders?

Anja Wicker: Es ist einfach diese Bühne, diese Strahlkraft. Eine WM ist sportlich ähnlich wertvoll, aber die Paralympics erreichen ein anderes Publikum. Die Aufmerksamkeit, die Geschichten, die Menschen – das ist unvergleichlich. Und jedes Mal, wenn ich bei der Siegerehrung stehe und die Hymne höre, weiß ich: Dafür hat sich jede Trainingsstunde gelohnt.

Schnappschuss direkt nach der Siegerehrung bei der Langlauf WM über 10 km.

A propos große Bühne mit Strahlkraft: Wie war es für dich, im März in Norwegen im Rahmen der Nordischen Ski WM der Nicht-Behinderten euer WM-Finale im Sprint zu bestreiten?

Anja Wicker: Das war schon ein tolles Erlebnis. Ich war in Sotchi mal vor 8.000 Zuschauern gelaufen, aber in Trondheim waren es diesmal 20.000 – das war nochmal eine andere Nummer und ein Wahnsinns-Erlebnis. Die Bedingungen waren allerdings grausig, da es die ganze Woche geregnet hatte und der Schnee eine Katastrophe war. Ich war ehrlich gesagt auch ziemlich nervös, weil ich zum einen wusste, dass das so überhaupt nicht meine Bedingungen sind, zum anderen aber vor so vielen Zuschauern auch unbedingt die Siegerehrung auf dem Podest miterleben wollte. Das Sprint-Rennen ging ja auch nur drei Minuten und ich konnte Bronze ins Ziel retten. Auch wenn der Wettbewerb in mehrfacher Hinsicht nicht unbedingt WM-würdig war, hat er uns in den Fokus gerückt und gezeigt, dass olympischer und paralympischer Sport an einem Tag in derselben Venue machbar ist. Scheinbar überlegen die Verbände nun, uns bei der nächsten WM in zwei Jahren in Schweden komplett ins Programm zu übernehmen.