Parasport im Fokus: Was ist ein Paralympics-Sieg wert?
„Was ist ein Paralympics-Sieg wert?“ Diese Frage hatte Maike Hausberger, Paralympics-Siegerin von 2024 im Straßen-Zeitfahren, im April in einem SWR-Beitrag gestellt, nachdem sie ein Dreivierteljahr nach ihrer Goldmedaille von Paris zum Saisonbeginn ohne Zeitfahrrad und ohne Sponsoren dagestanden war. Wir haben ihre Situation zum Anlass genommen, um beim SPORT.S-Partner BMW Niederlassung Stuttgart Rosensteinpark ihre Frage mit anderen Stuttgarter Sportlerinnen und Sportlern zu diskutieren und Anregungen für Lösungswege zu sammeln.
Neben Maike Hausberger sind die Paralympics-Sieger Maurice Schmidt (Rollstuhlfechten), Lara Baars (Kugelstoßen/Niederlande), Anja Wicker (Ski Nordisch) und Matthias Berg (Ski Alpin, Leichtathletik), sowie die Paralympics-Fünfte Jana Spegel (Para-Tischtennis), Transplantierten-Weltmeisterin Bera Wierhake (Leichtathletik), Steffen Neumann (Leistungssportkoordinator Württ. Behindertensportverband) und Mandy Pierer (Inklusionsmanagerin MTV Stuttgart) unserer Einladung gefolgt. Auszüge der wichtigsten Erkenntnisse und Ideen aus der dreistündigen Diskussion geben wir auf den folgenden Seiten wieder.

Autor:Ralf Scherlinzky

Abends im Autohaus: Die spannende dreistündige Paralympics-Diskussionsrunde. Fotos: Linda Grof, Harry Bauer
Ein Leben am Existenzminimum
„Nach einem Paralympics-Sieg stehst du ein paar Tage im Mittelpunkt des medialen Interesses, doch das ändert sich leider schnell wieder und du bleibst auf dich allein gestellt“, weiß Maike Hausberger. „Radsport ist eine finanziell aufwändige Sportart und ein Zeitfahrrad kostet einen fünfstelligen Betrag, was ich allein unmöglich stemmen kann. Davon bräuchte ich eigentlich zwei oder drei, um konkurrenzfähig zu sein. Hätte sich nicht ein Privatmann noch kurz vor Saisonbeginn bereit erklärt, mir ein Rad zu finanzieren, hätte die Weltcup-Saison ohne die aktuelle Paralympics-Siegerin stattfinden müssen.“
Doch es ist nicht nur der sportliche Bereich, der der 30-Jährigen Sorgen bereitet. Auch privat lebt sie am Existenzminimum, wie sie berichtet: „Ich bin Studentin und trainiere 25 Stunden pro Woche. Da bleibt keine Zeit, um auch noch arbeiten zu gehen. Als Para-Sportlerin kann ich weder Sportsoldatin werden, noch bekomme ich einen Platz bei der Sportförderung der Polizei. Deshalb lebe ich seit Jahren allein von der Sporthilfe, was gerade so zum Überleben reicht.“
Maurice Schmidt kennt diese Situation nur allzu gut. Der 25-Jährige durfte sich zwar, wie Maike Hausberger, über eine von der Deutschen Sporthilfe ausbezahlte fünfstellige Prämie für seinen Paralympics-Sieg freuen – doch was auf den ersten Blick nach viel Geld klingt, war auch für den Umwelttechnik-Studenten nur ein Tropfen auf den heißen Stein. „Prämien gibt es in Deutschland nur für eine Paralympische Medaille. Paralympics finden aber nur alle vier Jahre statt. Um dort überhaupt teilnehmen zu dürfen, müssen wir aber auch in den Jahren dazwischen zu internationalen Turnieren fahren. Während zum Beispiel die türkischen Rollstuhlfechter vom Staat ein Tagesgeld sowie Prämien für Weltcup-Medaillen bekommen, gehen wir hier komplett leer aus und müssen dazu noch alles selbst finanzieren. Und dann beschwert man sich, dass deutsche Athleten nicht mehr so viele Medaillen gewinnen wie früher. Das liegt einfach daran, dass andere Nationen ihre Sportler besser unterstützen und deshalb an uns vorbeiziehen.“
Lara Baars bestätigt, dass die Förderung in den Niederlanden deutlich besser ist als in Deutschland. „Wir bekommen vom Staat eine monatliche Unterstützung, mit der wir unseren Lebensunterhalt bestreiten können“, berichtet die 28-jährige Kugelstoßerin. „Dafür hakt es aber in anderen Bereichen. So bin ich zum Beispiel nach Stuttgart umgezogen, weil ich in den Niederlanden im sportlichen Bereich nicht die besten Trainer hatte und jetzt erst hier in der Trainingsgruppe von Peter Salzer mein Potenzial ausschöpfen kann.“





Geballte Paralympics-Kompetenz: die Stuttgarter Goldmedaillengewinner (von links) Maurice Schmidt (Rollstuhlfechten), Maike Hausberger (Radsport), Anja Wicker (Ski nordisch), Matthias Berg (Ski Alpin + Leichtathletik) und Lara Baars (Kugelstoßen).
Drohende Altersarmut
Ein Problem, das viele Sportlerinnen und Sportler – auch im olympischen Bereich – von sich wegschieben, spricht Anja Wicker an: „Die finanzielle Förderung, über die wir die ganze Zeit reden, dreht sich um die kurzfristige Finanzierung der anstehenden Saison. Aber was ist mit der Rente? Wenn jemand 15 Jahre Leistungssport macht und nicht privat vorsorgt bzw. keine Förderstelle bei Bundeswehr, Polizei oder Zoll hat, fällt einem das später auf die Füße.“
Recht bekommt die Paralympics-Siegerin von 2014 von Maike Hausberger, die sagt: „Wir stehen jeden Tag für Deutschland ein und sind nachher dennoch von Altersarmut bedroht. Darüber möchte ich mir eigentlich gar keine Gedanken machen. Wenn nicht mal das Höchste, was ich in meinem Sport erreichen kann und für das ich von Deutschland gefeiert werde, zum wirtschaftlichen Überleben reicht, dann kann ich mir meinen Sport irgendwann nicht mehr leisten und muss aufhören.“
In Zeiten, in denen es nicht mal Medaillenprämien gab, war Matthias Berg aktiv. Der 63-Jährige war zwischen 1980 und 1994 gleich für zwei Nationalmannschaften bei Paralympischen Spielen an den Start gegangen – im Sommer in der Leichtathletik, im Winter im Ski Alpin. „Die Finanzierung der Leichtathletik aus der eigenen Tasche war kein Problem. Alle zwei Jahre neue Laufschuhe und eine kurze Hose – das kriegst du hin“, so der Esslinger. „Aber im Wintersport habe ich acht Paar Ski pro Saison benötigt. In einer Paralympics- und WM-Saison war man 50 Tage in den Bergen, hatte 50 mal die Liftkarte, 50 mal das Hotel. Da musste man zwangsweise Fantasie walten lassen, um den Sport finanzieren zu können.“
Matthias Berg studierte parallel zum Sport noch Musik und Jura, verdiente seinen Lebensunterhalt mit Solokonzerten als Hornist und hatte über persönliche Kontakte einige wenige Partner, die ihm mit der Sport-Ausrüstung unter die Arme griffen. „Um überhaupt in die Nähe von Sponsoren zu kommen, musstest du zwangsweise in der Presse sein, was damals noch weitaus schwieriger war als heute. Und man darf auch nicht vergessen, dass es damals noch kein Social Media gab. Da habt ihr es heute einfacher und könnt euch selbst als Marke darstellen“, so der heutige Speaker und ZDF-Experte, der inzwischen in verschiedenen Rollen 20 mal an Paralympischen Spielen teilgenommen hat.





Sie brachten weitere wichtige Aspekte und Ideen in die Diskussion ein (von links): Jana Spegel (Paralympics-Fünfte 2024, Para-Tischtennis), Mandy Pierer (Inklusionsmanagerin MTV Stuttgart), Marian Metz (Standortleiter BMW Stuttgart Niederlassung Rosensteinpark), Steffen Neumann (Leistungssportkoordinator Württembergischer Behinderten- und Rehasport-Verband), Bera Wierhake (mehrfache Transplantierten-Weltmeisterin Leichtathletik, darf ab sofort im Parabereich starten).
„Wir sind Sportler, keine Influencer“
Mit Social Media spricht Matthias Berg ein Thema an, das in der Runde der Paralympics-Siegerinnen und -Sieger stark polarisiert. „Wir sind Sportler und wollen keine Influencer sein“, sagen Maike Hausberger und Maurice Schmidt, die auf Instagram jeweils rund 1.500 Follower erreichen, unisono. Auch Anja Wicker (unter 1.000 Follower) winkt bei diesem Thema ab: „Ich poste alle Lichtjahre mal etwas. Mir macht das einfach keinen Spaß. Meine Leidenschaft ist der Sport, und darauf lege ich meinen Fokus. Das macht es aber natürlich auch schwierig, potenzielle Sponsoren zu erreichen.“
Lara Baars dagegen berichtet von ihren über 34.000 Followern und erntet ein bewunderndes Raunen: „Natürlich steht auch bei mir der Sport im Vordergrund, aber mir macht es auch Spaß, von meinen Trainingseinheiten und Wettkämpfen zu berichten. Du brauchst eine entsprechende Reichweite, um für Sponsoren interessant zu sein. Ich finde es aber auch schwierig, dass darauf so viel Wert gelegt wird, und es ist unfair, dass weniger erfolgreiche Athleten zum Teil mehr Sponsoren haben als erfolgreiche Sportler, nur weil ihnen auf Social Media mehr Menschen folgen. Aber auf der anderen Seite ist es auch verständlich, weil die Marken ja gesehen werden wollen.“
Maike Hausberger bestätigt, dass ihre relativ überschaubare Followerzahl schon mehrfach potenzielle Sponsorenverträge verhindert hat. „Es ist frustrierend, dass die sportliche Leistung weniger zählt als die Reichweite auf Social Media“, schüttelt die gebürtige Triererin den Kopf. „Selbst wenn ich hier aktiver werden würde – wie soll ich beim Radfahren mit nur einer voll funktionsfähigen Hand auch noch Videos von mir machen?“
Matthias Berg („Ich finde Social Media ätzend, man kommt aber nicht mehr daran vorbei.“) verweist an dieser Stelle auf KI-Tools, die „in 30 Sekunden Posts machen, für die du normal zwei Stunden brauchst“, während Bera Wierhake vorschlägt, Synergien zwischen den Sportlerinnen und Sportlern zu nutzen: „Ich habe für die Produktion meiner Reels eine Drohne. Lasst uns doch immer wieder mal gemeinsam trainieren und dabei entsprechendes Videomaterial produzieren.“

Fehlende TV-Präsenz und Livestreams
Es sei nicht nur die überschaubare Reichweite auf Social Media, die potenzielle Sponsoren von einem Engagement abhalte, sondern auch die geringe Präsenz an Bewegtbildern in den Medien, weiß Maurice Schmidt. „Dabei geht es nicht nur um das klassische Fernsehen, sondern auch um Livestreams. Nicht mal mein Final-Gefecht von Paris, in dem ich die Goldmedaille gewonnen habe, wurde live im Stream übertragen, obwohl Kameras da waren. Meine Familie musste über koreanische und ägyptische VPN-Verbindungen einen Stream suchen, damit sie mein Gefecht um Gold live sehen konnte.“
Dies liege hauptsächlich an der Vergabe der Bewegtbildrechte, weiß ZDF-Experte Matthias Berg. Die Firma Olympic Broadcasting Services habe eigentlich die vertragliche Verpflichtung, Olympische und Paralympische Spiele mit genügend Kameras zu übertragen. „Die bauen nach Olympia aber zwei Drittel der Kameras ab und sparen sich damit Kameraleute und Techniker. ARD und ZDF schreiben deshalb regelmäßig Protestnoten an das Internationale Paralympische Komitee, das es nicht auf die Reihe bekommt, auf die Vertragserfüllung zu pochen. Das ist auch für uns im Studio ärgerlich, da uns die Bilder fehlen.“
Paralympics vor den Olympischen Spielen?
Jüngst hatte der ehemalige Skirennläufer Felix Neureuther angeregt, die Paralympics vor den Olympischen Spielen stattfinden zu lassen, um mehr Aufmerksamkeit für die Parasportler zu generieren. Eine gute Idee?
„Das würde nicht funktionieren“, ist Maurice Schmidt sicher. Da die Olympischen Spiele einen fixen Zeitpunkt haben, müssten die Paralympics vorgezogen werden und würden so mit anderen internationalen Sportevents kollidieren. Außerdem, so der Rollstuhlfechter weiter, habe er persönlich davon profitiert, dass er vor seinen Wettkämpfen die Olympia-Gefechte der „Fußgänger“ anschauen konnte. „Da war so ein Lärm in der Halle, dass man die Kampfrichter nicht gehört hat. So konnte ich mich mental darauf einstellen, was für mich definitiv ein Vorteil gegenüber meinen Konkurrenten war.“
Auch Jana Spegel, die bei ihren ersten Paralympics Fünfte wurde, hält den Neureuther-Vorschlag für nicht zielführend: „Letztendlich profitieren wir von vielem, was wir vorher bei Olympia sehen. Und das, was bei den Olympischen Spielen schlecht war, kann bei uns besser gemacht werden.“
Obwohl alle Beteiligten auch eine Zusammenlegung von Olympischen und Paralympischen Spielen generell ablehnen, wünschen sie sich eine Stärkung des inklusiven Gedankens, um den Parasport mehr in den Fokus zu rücken. Für Lara Baars ist es längst normal, gemeinsam mit nicht behinderten Sportlerinnen im Kugelstoßen zu trainieren und bei Wettkämpfen anzutreten. Bera Wierhake läuft nicht nur gegen andere transplantierte Läuferinnen, sondern auch gegen „Normalos“. Und Anja Wicker hat im März die Stimmung bei der Nordischen Ski WM in Trondheim (Norwegen) erlebt, als erstmals der Sprint im Para-Langlauf in das Programm der „großen WM“ integriert wurde. „Auch wenn eine komplette Zusammenlegung aufgrund der unterschiedlichen Bedürfnisse nicht möglich wäre, so hat man doch gesehen, wie es sein könnte“, so die 33-Jährige.
Ein Förderverein als Lösungsansatz
Eines der Ziele für unseren gemeinsamen Abend mit den Paralympioniken war es, praktikable Lösungsansätze zur Verbesserung der Situation der Leistungssportlerinnen und -sportler mit Handicap zu verbessern. Dies ist uns – zumindest ansatzweise – gelungen.
Matthias Berg berichtete vom Förderverein Ski-Team Alpin der Behinderten e.V., den er in den 1980er-Jahren gemeinsam mit Nationalmannschafts-Kolleginnen und -Kollegen gegründet hat und der heute noch existiert. „Das war ein guter Weg, über den wir Gelder sammeln konnten, um für Trainer und Betreuer die Reisen zu unseren Wettkämpfen zu finanzieren. Einen solchen Förderverein könnte ich mir für die Parasportlerinnen und -sportler der Region auch sehr gut vorstellen“, so der Jurist.
Und tatsächlich: Die Idee, den hiesigen Parasport in Form eines Fördervereins zu unterstützen, ist in der Runde auf ein sehr positives Echo gestoßen. Ein gemeinnütziger Verein könnte sowohl Sponsorenverträge abschließen als auch Spendenbescheinigungen für zweckgebundene Förderungen ausstellen. „Und je konkreter man benennen kann, wofür man die Mittel benötigt, desto gezielter kann man Unternehmen und Privatpersonen ansprechen“, so Matthias Berg.

Hinten v. l.: Mandy Pierer, Steffen Neumann, SPORT.S-Redakteurin Lara Auchter, Maike Hausberger. SPORT.S-Redakteur Ralf Scherlinzky, Bera Wierhake, Maurice Schmidt, Matthias Berg, Marian Metz. Vorne v.l.: Anja Wicker, Lara Baars, Jana Spegel.
Einen interessanten Synergieeffekt spricht dabei BMW-Standortleiter Marian Metz an: „Wenn wir dann noch einen gemeinsamen Instagram-Account anlegen, könnt ihr diesen zusammen bespielen, ohne dass jeder einzelne täglich etwas posten und zum Influencer werden muss.“
Das Konzept für den Förderverein ist bereits in der Entwicklung und wir behaupten jetzt einfach mal optimistisch, dass wir in SPORT.S 13 mehr dazu sagen und vielleicht sogar schon Vollzug melden können.