Status der Leichtathletik: Gespräch mit DLV-Präsident Jürgen Kessing

Jürgen Kessing ist in der Region Stuttgart vorrangig als Oberbürgermeister der Stadt Bietigheim-Bissingen bekannt. Doch der 67-Jährige ist seit 2017 auch Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV). Gemeinsam mit Hürdensprinterin Rosina Schneider (siehe Titelgeschichte) haben wir uns Ende Mai mit Jürgen Kessing online getroffen, um mit ihm über die Learnings des DLV aus der WM 2023 in Budapest, den Status der deutschen Leichtathletik im Allgemeinen und die Aussichten in die olympische Zukunft im Besonderen zu sprechen.

Autor:Ralf Scherlinzky

25. Juni 2024

Im Herbst 2023 hatten die Bundeskader-Nominierungen des Deutschen Leichtathletik-Verbandes in Olympia-, Perspektiv-, Ergänzungs- und Nachwuchskader für Irritationen und teils auch Unverständnis bei den Athletinnen und Athleten gesorgt. Nicht wenige waren davon überrascht worden, dass sie nicht mehr von den entsprechenden Fördermaßnahmen des DLV profitieren konnten.

Am 22. Mai 2024 hat der DLV nun seine neuen Kaderbildungsrichtlinien 2024/25 veröffentlicht, die die Aufnahmekriterien klar definieren und keine Interpretationsspielräume mehr zulassen. „Jetzt kann jeder online nachlesen, anhand welcher Kriterien die Kader-Nominierungen zustande kommen“, weiß Jürgen Kessing.

Analyse der erfolglosen WM 2023

Seit die deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Budapest 2023 komplett ohne Medaillengewinn blieben, arbeitet man beim DLV die Gründe dafür auf und versucht dagegenzusteuern. „Dabei müssen wir die Zeit eigentlich schon auf die Monate und sogar Jahre vor der WM zurückdrehen, denn gerade die Athletinnen und Athleten, die Medaillenchancen gehabt hätten, waren verletzt oder krank und deshalb gar nicht dabei“, sagt der DLV-Präsident.

Foto: Andreas Dalferth

Er berichtet von einem rund 80-köpfigen Kompetenzteam aus Athleten, Trainern, Medizinern etc., das nach der WM gebildet wurde. „Unser Augenmerk in diesem Kreis liegt dabei vor allem auf der Prävention, denn wir müssen erstmal schauen, dass wir unsere Sportler künftig gesund an den Start bringen können.“

Gerade bei jungen Talenten sei die Gefahr groß, dass man zu früh durch zu hohe Belastung die maximale Leistung herauskitzeln wolle. „80 bis 90 Prozent aller Weltklasseleistungen werden erst recht spät in der Karriere von Leuten erbracht, die in der Jugend gar nicht so aufgefallen sind und sich erst viel später entwickelt haben. Wir müssen schauen, dass wir unsere Sportlerinnen und Sportler überhaupt aus der U23 in den aktiven Bereich bringen können und sie nicht vor dem Peak ihrer Leistungsfähigkeit an Studium und Beruf verlieren“, so der ehemalige Stabhochspringer und Zehnkämpfer.

Wechsel ans US-College als Königsweg?

Ob das vielfach vorgeschlagene Vorgehen, die Nachwuchstalente an die Colleges in die USA zu schicken, der Königsweg ist, bezweifelt Kessing: „Das mag jetzt bei Zehnkämpfer Leo Neugebauer funktioniert haben, aber er ist der einzige der aktuell in den USA studierenden deutschen Sportler, der eine solche Leistungsexplosion hatte. Und im Übrigen haben auch wir kein schlechtes System mit der Laufbahnberatung an den Olympiastützpunkten, mit der Bundeswehr und Polizei sowie der einen oder anderen Universität.“

Tatsächlich seien einige Nachwuchstalente ihres Jahrgangs aktuell am Überlegen, auch in die USA zu gehen, bestätigt Rosina Schneider. Für sie persönlich käme dies jedoch nicht in Frage: „Ich bin mit meinem Umfeld in Stuttgart happy und möchte auch nichts daran ändern. Aber natürlich war die Erfahrung, die ich im letzten Jahr bei meinen mehrwöchigen Aufenthalten in den USA und Jamaika gemacht habe, unglaublich wertvoll für mich und meine weitere Entwicklung.“

Wäre es vielleicht sogar im Sinne des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, jungen Sportlerinnen und Sportlern die Möglichkeit zu bieten, wie Rosina Schneider mehrere Wochen gemeinsam mit Weltklasse-Athleten zu trainieren? „Wir würden uns solchen Dingen gegenüber nicht generell verschließen. Aber so weit, dass wir das aktiv anbieten könnten, sind wir noch lange nicht. Es ginge dabei gleich um eine dreistellige Anzahl an Athleten, die dafür in Frage kommen würden, was enorme Kosten verursachen würde. So gut die Idee wäre, so wenig ist sie leider realisierbar“, so Jürgen Kessing. „Es ist aber tatsächlich angedacht, dass wir internationale Trainingsgruppen bilden. Da gibt es schon einige Kontakte, vor allem jetzt im Vorfeld der Olympischen Spiele. Da wir in etwa die gleichen Witterungsverhältnisse wie in Paris haben und gute Rahmenbedingungen bieten können, wollen einige Top-Nationen sich in Deutschland auf die Spiele vorbereiten. Davon würden auch unsere Athleten wieder profitieren.“

Jürgen Kessing (rechts oben) im Gespräch mit Rosina Schneider und SPORT.S-Herausgeber Ralf Scherlinzky

Keine Selbstverständlichkeit

Für Athletinnen und Athleten, die nicht wie sie die Möglichkeit hatten, im Ausland zu trainieren, sei dies eine tolle Sache, findet Rosina Schneider. „Außerdem“, so die 19-Jährige weiter, „möchte ich jetzt auch mal danke in Richtung DLV sagen. Es ist alles andere als selbstverständlich, dass der Verband Sportlern, Trainern, Physios und dem ganzen Staff mehrmals im Jahr mehrwöchige Trainingslager im Ausland ermöglicht. Ich weiß, dass dies einen Haufen Geld kostet und wir können uns glücklich schätzen, dass wir so unterstützt werden. Deshalb finde ich es auch ungerechtfertigt, wie die Medien den DLV oft kritisieren.“

Es sei gut, dass sie dies von sich aus anspreche, antwortet Jürgen Kessing. „Wir sind hier schon wesentlich weiter als noch vor ein paar Jahren und stellen mit Bundestrainern, medizinischen Kompetenzen, Trainingslagern auf den Kanaren, in Südafrika etc. Rahmenbedingungen, die auch gerne in Anspruch genommen werden“, so der gebürtige Wormser. „Ein Kaderathlet kostet den DLV über das Jahr hinweg gut einen fünfstelligen Betrag und das Innenministerium investiert zig Millionen jährlich. Leider wird dies meist nicht gesehen und es wird oft als selbstverständlich erachtet.“

Fehlende Infrastruktur für die Leichtathletik

Ein weiterer Punkt, über den man reden müsse, sei die fehlende Infrastruktur für die Leichtathletik in Deutschland, so der Oberbürgermeister von Bietigheim-Bissingen weiter: „Wenn ich sehe, dass in einem despotischen Land wie Ungarn für die WM 2023 mehr Geld in das Stadion und die Infrastruktur reingesteckt wurde, als in Deutschland das ganze Jahr über in den gesamten Nicht-Fußball-Sport, dann ist das für mich ein krasses Missverhältnis. Bei uns fließen jährlich rund 300 Millionen Euro in den organisierten Sport – das klingt zwar erstmal viel, aber in den USA haben manche Universitäten diese Summe für sich allein zur Verfügung. Wie sollen wir bei diesen Voraussetzungen sportlich mit der Weltspitze mithalten können?“

Dass ein so reiches Bundesland wie Baden-Württemberg, genauso wie beispielsweise Nordrhein-Westfalen, kein Stadion habe, in dem Meisterschaften für Aktive durchgeführt werden können, sei für ihn ein Armutszeugnis. „All die tollen Stadien, die wir in Stuttgart, Frankfurt, Hamburg, Hannover, Düsseldorf, Köln, Gelsenkirchen und Dortmund für die Leichtathletik hatten, wurden inzwischen zu reinen Fußballstadien umgebaut und stehen uns nicht mehr zur Verfügung“, schüttelt Jürgen Kessing den Kopf. In der Bundesregierung sehe er im Moment niemanden, der sich richtig für den Sport einsetze, obwohl dieser gesundheits- und sozialpolitisch eine bedeutende Rolle spiele. „Der Lösungsweg für eine verbesserte Infrastruktur“, so der 67-Jährige weiter, „liegt für mich in einer deutschen Bewerbung für ein sportliches Großereignis wie den Olympischen Spielen. Da hätten wir zehn, zwölf Jahre Zeit, um die entsprechende Infrastruktur in Ruhe aufzubauen.“

Erwartungen für Paris 2024

Bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio hat Deutschland über die Sportarten hinweg 37 Medaillen – zehnmal Gold, elfmal Silber und 16-mal Bronze – geholt. Wo liegen die Erwartungen für das sportliche Abschneiden bei den Spielen in Paris?
„Der Deutsche Olympische Sportbund hat die Zielvorgabe gemacht, dass unsere Sportlerinnen und Sportler das Level von Tokio halten und ungefähr die gleiche Anzahl an Medaillen holen“, runzelt Jürgen Kessing die Stirn. Er verweist auf das Potenzialanalysesystem

PotAS, das die disziplinbezogenen Potenziale der Olympischen Spitzenverbände anhand von transparenten, sportwissenschaftlichen und sportfachlichen Leistungskriterien analysiert. „PotAS rechnet damit, dass Deutschland in Paris weniger als 20 Medaillen gewinnen wird. Das finde ich alarmierend. Vielleicht muss es tatsächlich so weit kommen, damit der Leidensdruck in Deutschland so stark wird, dass man nicht nur an den Fußball denkt, sondern auch die anderen Sportarten wieder mehr wertschätzt.“

Für die Athletinnen und Athleten des DLV sieht der oberste deutsche Leichtathlet die besten Medaillenchancen im Mehrkampf der Männer, in den Wurfdisziplinen und beim Weitsprung der Frauen: „Dazu müssen natürlich alle gesund an den Start gehen und ihre beste Leistung abrufen, und natürlich müssen auch die Gegner mitspielen.“

OB und DLV-Präsident in Personalunion

Wie bringt eigentlich ein viel beschäftigter Oberbürgermeister schon seit 2017 seinen Job und die Aufgaben des DLV-Präsidenten unter einen Hut? „Am Anfang war das tatsächlich sehr schwierig, weil auch die Verantwortung eine andere war. Während der Pandemie haben wir die DLV-Satzung aber insofern angepasst, dass wir den Verband auf das Hauptamt umstellen konnten. Wir haben nun mit Idriss Gonschinska, Dr. Ralf Buckwitz und Dr. Jörg Bügner drei hauptamtliche Vorstände und das Präsidium kann dadurch quasi als Aufsichtsrat agieren“, erklärt Jürgen Kessing.

Auch im Rathaus von Bietigheim-Bissingen sehe man sein Engagement beim DLV positiv. „Wir haben hier gute Leute, die sehen, dass die vielen Kontakte, die ich durch den Sport knüpfe, auch unserer Stadt zugute kommen. Leider kann ich dadurch nicht mehr ganz so oft den lokalen Sport besuchen wie früher“, bedauert er.