Winter Olympics + Paralympics – Drei Stuttgarter in China

Andrea Rothfuss, Anja Wicker und Michael Salzer haben eines gemeinsam: Alle drei leben und trainieren in der Region Stuttgart und gingen in Peking bei den Olympischen bzw. Paralympischen Winterspielen an den Start, um sich in der Königsklasse des Sports mit der internationalen Konkurrenz zu messen. Und die Bilanz kann sich sehen lassen: Andrea (32 Jahre) holte in der Startklasse LW 6/8-2 stehend den vierten Platz in der Abfahrt, Platz neun im Super-G und die Bronzemedaille im Riesenslalom. Anja (30) ging nach ihrem Paralympics-Sieg 2014 und dem WM-Titel 2022 als Mitfavoritin im Biathlon über die 10 km Distanz an den Start. Dort sicherte sie sich in der Startklasse sitzend LW 10,5 die Bronzemedaille und belegte darüber hinaus die Plätze vier und fünf über die 12,5 km und die 6 km sowie die Plätze fünf und sieben in der Langlauf Mixed Staffel bzw. dem Langlauf Sprint. Michael Salzer (30) schaffte es, sich als ehemaliger Diskuswerfer einen der begehrten drei Plätze als Anschieber für den Viererbob von Christoph Hafer zu sichern. Der Zweimetermann fuhr dabei mit seinen Kollegen nur haarscharf an einer Medaille vorbei und landete hinter zwei deutschen und einem kanadischen Team auf Platz vier der Gesamtwertung. Wir haben uns mit den drei sympathischen Athlet:innen getroffen und spannende Geschichten aus China gehört, die wir hier für die SPORT.S-Leser erzählen.

Autor:Lena Staiger

31. Mai 2022

Spannende Gesprächsrunde: Andrea Rothfuss, Anja Wicker und Michael Salzer mit den SPORT.S-Redakteuren Lena Staiger, Steffi Hägele und Ralf Scherlinzky

Fotos: Seventyfour.studio

Wie habt ihr die Olympischen bzw. Paralympischen Spiele unter den strengen Coronamaßnahmen Chinas erlebt?
Andrea Rothfuss: Ich glaube, eine bessere Quarantäne hätte es nicht geben können. Jede Person, die in diesem Closed-Loop System drin war, hat jeden Tag einen PCR Test abgeben müssen. Der ganze Papierkram in der Vorbereitung war da eher das Problem. Was muss man alles ausfüllen, was muss wann unterschrieben werden usw. – das war schon stressig.
Anja Wicker: Also ich muss sagen, als ich erstmal vor Ort war, war ich so entspannt wie lange nicht mehr. Das davor war echt Horror. Bloß nicht krank werden, bloß nichts vergessen. Ich habe mich schon vor der WM in eine selbst auferlegte Quarantäne begeben und bin nicht mehr rausgegangen. Meine Eltern durften dann auch nirgends mehr hin, wenn sie Kontakt zu mir haben wollten (lacht). Das heißt, ich war eigentlich wochenlang nur noch für das Allernötigste draußen unterwegs. Mit einem positiven Test können eben die vier Jahre Vorbereitung mit einem Schlag umsonst gewesen sein…
Michael Salzer: Bei mir war es auch so. Ich habe mir echt Gedanken gemacht was wäre, wenn der Test kurz davor positiv ausschlägt. Ich glaube, die Party vor Ort war durch die komplette Abgrenzung und die Vielzahl an Tests wohl die sicherste Party aus gesundheitlicher Sicht, auf der ich je war.

Andrea Rothfuss

Foto: Seventyfour.studio

Anja, Andrea, habt ihr euch vor Ort getroffen und konntet euch gegenseitig unterstützen oder waren auch die Teams sportartspezifisch voneinander getrennt?
Andrea Rothfuss: Wir haben uns gar nicht vor Ort gesehen, da wir auch in unterschiedlichen Dörfern waren. Wir alpinen Sportler:innen waren abgekapselt in einem anderen Dorf untergebracht.
Anja Wicker: Im Flugzeug auf dem Hin- und Rückflug haben wir uns gesehen und konnten uns austauschen.

Michael, war das bei euch genauso?
Michael Salzer: Wir hatten ein sogenanntes Quarantänetrainingslager eine Woche vor Abflug in Kienbaum. Falls da noch was passiert wäre, hätte man sich dann absondern können. Es hat aber zum Glück alles gepasst. Unser Verband war allgemein der einzige, der auch während der Weltcupsaison keinen einzigen Coronafall hatte. Wir waren intern in drei Gruppen unterteilt, so dass wir keine langen Infektionsketten gehabt hätten. Aber die Maßnahmen waren völlig in Ordnung und haben sich voll ausbezahlt.

Zuschauer waren überhaupt nicht vor Ort, oder?
Andrea Rothfuss: Bei uns saßen schon ein paar Chinesen auf den Tribünen. Ich weiß allerdings nicht, ob das Offizielle waren, oder warum die zuschauen durften.
Michael Salzer: Wenn, dann waren ein paar Volunteers dabei. Die hat man aber sofort erkannt, da diese immer in voller Schutzmontur im weißen Anzug rumlaufen mussten. Das waren auch die einzigen Chinesen, die ich vor Ort kennengelernt habe. Mich haben daheim in Deutschland viele Leute gefragt, wie die Menschen vor Ort so sind. Ich konnte aber nur sagen, dass die Volunteers alle sehr freundlich und hilfsbereit waren und einige auch Englisch gesprochen haben.
Anja Wicker: Ja stimmt, das hat bereits am Flughafen angefangen. Da haben wir schon gesagt „Oh schaut mal, da stehen schon die Marsmenschen bereit“ (lacht).

Michael Salzer

Foto: Seventyfour.studio

Konntet ihr euch eure selbst gesteckten Ziele bei den Spielen erfüllen? Gerade ihr, Anja und Andrea, habt ja bereits die Erfahrung gemacht, wie es ist, ganz oben auf dem Treppchen zu stehen und Gold zu holen.
Andrea Rothfuss: Ich habe noch zwei oder drei Tage vor meinem eigenen Start während der Medaillenzeremonie einer anderen Kategorie zu einer meiner Kolleginnen gesagt, wie cool es wäre, wenn ich da auch nochmal hochdürfte. Wenn mir da jemand gesagt hätte „warte mal noch ein paar Tage, dann darfst du da auch stehen“, hätte ich das so nicht geglaubt. Ich denke, das sieht man auch auf den Bildern. Ich bin also mit dem Ergebnis meiner fünften Paralympischen Spiele sehr zufrieden.
Anja Wicker: Ich wollte auf jeden Fall eine Medaille holen. Vor allem auch, nachdem es vor vier Jahren nicht so gut war, wie ich mir das erhofft hatte. Für mich ist es super gelaufen und ich bin zufrieden mit dem Ergebnis.

Michael Salzer: Für mich waren es ja die ersten Olympischen Spiele. Wir waren die gesamte Saison über immer unter den Top sechs oder Top acht. Daher sind wir nicht unbedingt mit einem Medaillenziel in den Wettkampf gegangen. Wir wussten, wenn wir gut anschieben und der Hafi (Pilot Christoph Hafer) gut fährt, können wir es schaffen irgendwo vorne mit reinzufahren. Aber gerade im Viererbob gibt es so viele gute Leute und von denen haben wir wirklich einige hinter uns gelassen. Klar ist es dann schade, wenn man mit sechs Hundertstel an der Bronzemedaille vorbeischrammt. Aber im Endeffekt muss man sich freuen, man ist Vierter bei Olympia. Dass ich mich überhaupt erst einmal qualifiziere, hätte ich nicht unbedingt gedacht. In Deutschland gibt es so viele gute Anschieber, da muss man sich auch erstmal den Startplatz hart erkämpfen.

Wie setzt sich so ein Bob-Viererteam zusammen? Wird das einfach zusammengewürfelt?
Michael Salzer: Eigentlich nicht, normalerweise hat jeder Pilot seine festen Anschieber. Wenn die Anschubzeiten nicht passen, kann der Bundestrainer aber einzelne Athleten austauschen. In Oberhof haben wir immer den Einzelanschubtest, bei dem unsere Zeit genommen und die Leistung getestet wird. Wenn dann der Pilot theoretisch zwei Athleten mit nicht so guten Zeiten im Bob hat, interveniert der Bundestrainer.

Anja, Andrea, wie ist es bei euch mit den Läufen? Es gibt ja im Parasport verschiedene Klassifizierungen. Gehen diese gemeinsam ins Rennen oder startet jede Klasse extra?
Anja Wicker: Es gibt unterschiedliche Klassen: sitzend, stehend und VI (visually impaired). In meiner sitzenden Klasse gibt es dann nochmal fünf verschiedene Prozentklassen von 100 bis 88 Prozent. Die mit 100 Prozent sind die „am wenigsten Behinderten“, meist Amputierte, bei denen zum Beispiel der Unterschenkel fehlt. Ich habe 89 Prozent, bin also die zweithöchst behinderte Klasse. Dadurch bekomme ich dann 11 Prozent von meiner Laufzeit abgezogen.
Andrea Rothfuss: Im Alpinen ist es eigentlich genau das Gleiche. Auch hier gibt es die Unterteilung in sitzend, stehend und sehbehindert mit den verschiedenen prozentualen Abstufungen. Dadurch können auch viele verschiedene Behinderungen mit den jeweiligen Ausprägungen entsprechend gewertet werden. Bei mir haben die Konkurrentinnen zum Beispiel nur ein Bein oder eine halbseitige Lähmung. Durch das Prozentsystem versucht man das eben so weit wie möglich auszugleichen und vergleichbar und fair zu machen.
Anja Wicker: Interessant ist hier vielleicht auch noch zu erwähnen, dass diese Prozentzahlen sich darauf auswirken, wie schnell bei uns die Zeit mitläuft. Es ist also nicht so, dass die tatsächlich gelaufene Zeit am Ende um ein paar Prozent nachjustiert wird. Unsere Zeiten laufen tatsächlich unterschiedlich schnell, so dass der Zuschauer – und natürlich auch wir Sportler – beim Zieleinlauf die „richtige“ Zeit sehen.

Anja Wicker

Foto: Seventyfour.studio

Michael Salzer (links) als zweiter Mann im Viererbob.

Foto: Viesturs Lacis

Die Olympischen und Paralympischen Winterspiele standen ja durch die Menschenrechtsverletzungen in China weltweit in der Kritik und es war sogar über Sportlerboykotts nachgedacht worden. War das in Athletenkreisen ein Thema?
Michael Salzer: Klar haben wir unter den Sportlern darüber gesprochen. Wir haben uns jedoch eher die Frage gestellt, wieso dieses Thema nicht schon vor acht Jahren aufgekommen war, als die Spiele nach China vergeben wurden. Wir Sportler können am wenigsten dafür. Für uns ist die Olympia-Teilnahme das Highlight unseres Sportlerlebens, weshalb sollen wir die Spiele also boykottieren? Das ist ein Thema der Politik, nicht der Sportler.

Der Moment des Triumphes für Andrea Rothfuss: Die Paralympics.Siegerin von 2014 holte in Peking die Bronzemedaille im Riesenslalom.

Foto: Mika Volkmann

Andrea Rothfuss: Dass die Politiker ihre obligatorischen Besuche abgesagt haben, war ein weit größeres Statement, als wenn ich als Andrea Rothfuss zuhause geblieben wäre. Darüber hätten sich nur meine Konkurrentinnen gefreut. Ich muss aber auch sagen, dass die Menschenrechtssituation bei uns kein Thema mehr war, da wenige Tage vor dem Beginn der Paralympics Russland in die Ukraine einmarschiert ist. Der Krieg war bei uns allgegenwärtig. Wir hatten russische Sportlerinnen dabei, die immer fair sind und einem den Erfolg gönnen. Als sie ausgeschlossen wurden und abreisen mussten, tat einem das schon für sie leid. Total erschreckend waren aber dann die Bilder, die sie von ihrer Rückkehr in den Sozialen Medien gepostet haben. Sie wurden komplett für Propagandazwecke missbraucht und am Flughafen wie Rockstars empfangen.

Freude bei Anja Wicker über den Gewinn der Bronzemedaille im Biathlon über 10 km.

Foto: Ralf Kuckuck

Anja Wicker: Ich kenne unsere russischen Sportlerinnen zum Teil schon über zehn Jahre. Es war schon unwirklich, denn sie hatten sich, bevor sie abgereist waren, kaum mehr getraut mit uns zu sprechen. Wirklich krass waren aber die Gespräche mit den Ukrainern. Ein ukrainischer Trainer hat mir mit Tränen in den Augen auf dem Handy ein Bild von seinem zerbombten Haus gezeigt und gesagt, er wisse nicht, wie es seiner Familie gehe. Eine ukrainische Konkurrentin ist an einem Tag nicht gestartet, weil sie nachts erfahren hatte, dass ihr Vater in russische Kriegsgefangenschaft geraten ist. Schon allein die Bilder in den Nachrichten sind entsetzlich, aber wenn man das dann hautnah von langjährigen Bekannten erzählt bekommt, ist das schlichtweg furchtbar und man bekommt die ganze Tragweite mit!

Wie geht es für euch weiter, was sind die nächsten Ziele?
Anja Wicker: Bei mir ist das nächste Ziel die WM 2023.
Andrea Rothfuss: Bei mir auch, da starten wir ja beide. Ende Januar geht es für uns nach Schweden. Dieses Jahr in Lillehammer war es die erste gemeinsame WM der alpinen und nordischen Parasportler:innen.
Anja Wicker: Das ist eigentlich eine ganz schöne Möglichkeit bei der WM, sich untereinander auszutauschen. Andrea und ich sehen uns hier am Olympiastützpunkt Stuttgart natürlich regelmäßig, aber sonst überschneiden sich die Kontakte unter den Teams nur alle vier Jahre bei den Paralympischen Spielen.

Macht ihr nochmal einen Olympischen bzw. Paralympischen Zyklus mit? Bei euch allen steht ja inzwischen altersmäßig auch schon die „Drei“ davor…
Andrea Rothfuss: Ich habe gesagt, sehen wird man mich 2026 in Cortina auf jeden Fall, die Frage ist nur in welcher Funktion. Für mich waren es ja jetzt bereits die fünften Paralympics. Vier Jahre sind schon verdammt lang und man weiß nicht, was alles in diesen vier Jahren passiert. Noch habe ich aber richtig Lust und die WM nächstes Jahr mache ich auf jeden Fall noch mit. Vielleicht wache ich ja eines Morgens auf und bin mir sicher, ich will das nicht mehr mit dem frühen Aufstehen (lacht). Mit den 14 Paralympics-Medaillen habe ich eh schon alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Von daher muss ich mir keinen Druck mehr machen und jemandem irgendwas beweisen.
Anja Wicker: Ich sehe das auch ähnlich. Meinen Sport möchte ich so lange machen, wie ich Spaß daran habe. Wenn der Leistungsdruck wegfällt, macht man es tatsächlich nur noch für sich und für den Spaß an der Sache selbst. Das ist eigentlich die beste Einstellung, die man im Leistungssport haben kann.
Michael Salzer: Ich betrachte das Ganze von Jahr zu Jahr. Man muss natürlich in erster Linie auf seinen Körper achten und hören, was der sagt. Im Moment sieht es gut aus und nächstes Jahr ist die WM auf der Natureisbahn in St. Moritz. Das ist für mich das nächste große Ziel. Aber wenn man so nah an einer Olympischen Medaille war, juckt es natürlich schon in den Fingern, weil man denkt, vielleicht klappt es ja doch beim nächsten Mal. In Cortina könnten auch viele Freunde und die Familie zum Zuschauen kommen, das wäre natürlich auch richtig schön.

Von links: Michael Salzer, Andrea Rothfuss und Anja Wicker

Foto: Seventyfour.studio